09 Juni 2006

Das war knapp

Die Fakten:
Eine relativ schmale Straße in dem Stadtbezirk, von dem ich schon einmal nichts Gutes berichtet habe. In der Mitte der stark befahrenen, unbeampelten Straße eine kleine Verkehrsinsel. Ich nähere mich mit Célines Kinderwagen, schaue nach links, um den ersten Teil der Straße zu überqueren. Da das nächste Auto weit entfernt ist, mache ich die ersten, vielleicht zwei, Schritte auf den Asphalt. Ein lautes, anhaltendes Hupen ertönt von rechts. Ich schaue sofort in die Richtung, sehe einen großen Lastwagen mit enormem Tempo heranrauschen und frage mich in Sekundenbruchteilen, warum er hupt. Auf der Suche nach dem Grund geht mein Blick nach links, wo sich auf dem zweiten Straßenteil hinter der Verkehrsinsel ein Lieferwagen rückwärts aus einer Einfahrt schiebt. Wir sind vielleicht 3 m von ihm entfernt, der Lastwagen nähert sich schnell und ich kann mich nicht mehr rühren.

Jetzt denke ich, ich hätte schnellsten rückwärts zurück auf den Bürgersteig stolpern sollen. Aber in dem Moment, der wirklich nur sehr kurz gewesen sein kann, blieb ich einfach auf meinem Straßenteil stehen und erwartete völlig entsetzt den Zusammenstoß des mir aus der Nähe riesig erscheinenden LKWs mit dem Van. Auch in dieser winzigen Zeitspanne ging mir schon durch den Kopf, was ein Zusammenstoß für mich und Céline bedeuten würde - ich stelle mir vor, dass mindestens verschiedene Autoteile durch die Luft geflogen wären und schlimmstenfalls die beiden Wagen durch den Aufprall auf uns zugeschoben worden wären. Es war knapp, aber der LKW kam ca. einen Meter vor dem Lieferwagen mit quietschenden Bremsen zum Stehen.

Aus der Sicht des Kinderbetreuers:
Man kann noch so umsichtig, verantwortungsbewusst, liebevoll, lustig, erwachsen, gebildet, sicher, flexibel, vorsichtig und organisiert sein: es können einfach in der Betreuungszeit Dinge passieren, die man nicht verhindern kann, denen man vollkommen hilflos ausgeliefert ist und die man nicht wieder rückgängig machen kann. Selbst wenn ein Kind mal vom Klettergerüst fällt, kann man immernoch sagen oder zumindest insgeheim zugeben, dass man noch besser hätte aufpassen müssen, es nicht hätte loslassen dürfen oder ihm die Kletterei nicht hätte erlauben sollen. Aber bei solchen, völlig fremdverschuldeten Geschehnissen gibt es kein hätte, sollte, müsste. Sie passieren einfach, und das Wissen um die eigene Unschuld ist schlimmer als ein mehr oder weniger gerechtfertigter Vorwurf.

Aus der Sicht der Eltern:
Man kann die Person, der man sein Kind zeitweise anvertraut, noch so sorgfältig und bedacht auswählen und noch so glücklich über ein gelungenes Betreuer-Kind-Verhältnis sein, dem Betreuer noch so sehr vertrauen, was dessen Kompetenz im Umgang mit dem Kind angeht - es bleibt ein Risiko, gleichgültig, wie umsichtig, verantwortungsbewusst, liebevoll, lustig, erwachsen, gebildet, sicher, flexibel, vorsichtig und organisiert die Betreuungsperson auch sein mag. Die Eltern können bei ihrer Auswahl alles richtig machen und doch kann dem Kind genau dann etwas zustoßen, wenn der Betreuer die Verantwortung hatte. Keine Prophylaxe möglich, wenn es sich um solche Vorfälle wie den oben beschriebenen handelt. Sicher - wäre Célines Mutter zu genau diesem Zeitpunkt an genau dieser Stelle gewesen, hätte sie dasselbe erlebt, und wäre es zu einem Unfall gekommen, hätte er auch sie erwischt. Dennoch vertraut man sich selbst immer am meisten, und am Ende würde man dem Betreuer die Schuld geben. Vielleicht nicht unbedingt in Form von ausgesprochenen Vorwürfen, aber innerlich würde man als Eltern vielleicht denken: wenn ich mein Kind nicht abgegeben hätte, dann wäre das nicht passiert.

Manchmal trägt man mehr Verantwortung als einem bewusst ist. Oder bezieht sich Verantwortung auf steuerbare, selbst beeinflussbare Aspekte? Ich habe die Verantwortung für das betreute Kind, aber bin ich deshalb verantwortlich, wenn ein Meteorit auf seinen Kopf fällt, während ich daneben stehe?


P.S.: Von diesem nachdenklich stimmenden, aber glücklich ausgegangenem Erlebnis abgesehen hatten Céline und ich eine schöne (viel zu kurze) Zeit am See in der warmen Sonne (natürlich im Schatten). Nachdem sie erwacht war, habe ich sie auf der Wiese gemütlich mit einem Birne-Gläschen gefüttert. Danach hatte sie leider nur noch eine Viertelstunde Zeit, sich kriechend auf der Wiese umzusehen und ihren Kinderwagen von unten zu inspizieren, bevor wir uns auf den langen Heimweg machen mussten. Wirklich schade, denn Céline war gerade so vergnügt :) Aber auch im Wagen behielt sie ihre gute Laune bei, schaute interessiert mit großen Augen umher, gluckste, quietschte, erzählte etwas und mampfte mithilfe ihrer zwei Zähnchen eine Reiswaffel. Céline ist wirklich ein unkompliziertes Baby, sie weint eigentlich nie, nicht mal beim Aufwachen. Bin aber gespannt, wie sie sich am nächsten Samstag geben wird, wenn ihre Eltern abends weggehen und sie später für ihr Fläschchen aufwacht - und dann mich sieht ;)