19 September 2006

Bildbetrachtung

So hieß es doch früher im Schul-Kunstunterricht, wenn ein Werk irgendeines mehr oder minder berühmten Malers nach Strich und Faden zerpflückt wurde, oder? Jedenfalls blüht einer Zeichnung von Chris, die er mir heute vermacht hat, jetzt eine solche. Hier also erstmal das Bild:



Alles fing so an, dass ich ihm eine Ente und Wasser vormalen sollte, damit er sie ausmalen kann. Nachdem das erledigt war, fügte er von selbst die Sonne - und sehr konzentriert ihre Strahlen - hinzu. Schließlich meinte er: "Jetzt der Himmel, der geht doch leicht!" Wider Erwarten griff er dann aber nicht nach dem blauen Stift, sondern nahm sich den Bleistift, mit dem ich vorgemalt hatte - und zeichnete die dreiteilige Form hinter der Ente ein und malte sie dann blau aus. Währenddessen fragte ich nochmal nach: "Das ist der Himmel?" - Chris: "Ja." - Ich (wollte ihn wirklich nicht kritisieren, war nur unbändig neugierig): "Hmmm, und was ist da neben den Formen, also zwischen den blauen Formen und der Ente?" - Chris reagierte sichtlich verunsichert, so, als würde er nun selbst sehen, was an dem Himmel seltsam war. Dann sagte er tatsächlich: "Nein, das ist kein Himmel, das sind zwei Wasserfälle!". Nachdem er das für sich geklärt hatte, fügte er rundum die Formen gelben Sand, Eimerchen und Schaufel hinzu.

Und jetzt meine Deutung (wieso interpretiert man in der Schule eigentlich keine Kinderzeichnungen? Das hätte mich viel mehr interessiert als den angeblich großen Künstlern irgendwelche wirren Intentionen anzudichten.): Chris' Malschemata befinden sich im Übergang vom kindergartenkindtypischen Streifenbild zum Horizontbild der späteren Kindheit. Als Streifenbild bezeichnet man Zeichnungen mit einer charakteristischen Boden/Gras- und einer Himmelslinie, Erde und Himmel treffen sich also nicht am Horizont. Erst allmählich entwickelt das Kind eine perspektivischere Ansicht auf seinen Zeichnungen, die mit sich nähernden Himmel- und Bodenandeutungen beginnen. Offenbar wird Chris langsam deutlich, dass Himmel und Erde nicht wirklich derart auseinanderklaffen, also versucht er, seine Sicht der Welt realistischer darzustellen, ist hierbei aber noch unsicher, wie sein Versuch, den Himmel irgendwie "abzustecken" zeigt. Es war wirklich einmalig, Chris' Geist an der Aufgabe arbeiten zu sehen, zu beobachten, wie sich bei ihm innerlich ein Widerspruch zu bisher für "wahr" gehaltene Schemata und Sichtweisen auftat. Letztendlich ist dieser Zustand der inneren Widersprüchlichkeit nichts anderes als der Motor der Entwicklung (vgl. Piagets Äquilibrationsprinzip).

2 Kommentare:

Am 22 September, 2006 20:04 meinte Blogger Klabauter dazu:

Ich liebe diese Postings, wo sich Theorie und Praxis treffen! Herrlich! Danke!!

 
Am 22 September, 2006 22:02 meinte Blogger Malin dazu:

Hey super, dass man doch ab und zu merkt, dass geanu das ursprünglich mein Ziel für dieses Blog war. Allzu oft verliert man sich ja dann doch in reinen Ablaufbeschreibungen. Aber ich werde mir weiter Mühe geben!

Malin

 

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